Eine Äbtissin, die ihr Kind umbringen ließ und zuchtlose Chorherren

13.09.2020

Mittelheimer Basilika gilt als älteste Kirche des Rheingaus und hat eine wechselvolle, spannende Historie vorzuweisen

Mittelheim. (sf) Zuchtlose Augustiner-Chorherren, eine Äbtissin, die ihr Kind umbringen ließ, und von Spießen durchbohrte Kirchentüren: der 1131 errichtete romanische Sakralbau in Mittelheim ist die älteste Kirche des Rheingaus und hat eine wechselvolle, spannende Historie vorzuweisen. Das würde man beim Ansehen der Kirche nicht vermuten: der romanische Bau der äußerlich schlichten, dreischiffigen Pfeilerbasilika stammt aus dem 12. Jahrhundert. Und die Fundamente der Südseite stehen auf Resten eines Vorgängerbaus aus dem 10. Jahrhundert. Damit können die Mittelheimer für sich in Anspruch nehmen, die älteste Kirche im Rheingau zu besitzen. Und das tun sie mit Stolz: ein rühriger Förderverein, der sich vor einigen Jahren gegründet hat, sorgt mit großem Engagement für den Erhalt der Kirche. So gibt es besondere Konzerte wie das große Weihnachtskonzert mit Rheingauer Künstlern, eine Festweinprobe im Pfarrkeller und verschiedene Veranstaltungen, mit denen Geld für die Finanzierung unterschiedlicher Projekte wie einem neuen Beleuchtungskonzept oder der Restaurierung wertvoller Heiligenfiguren in der Basilika gesammelt wird, wie die Statue des Heiligen Urban, Schutzpatron der Winzer, die um 1500 entstanden sein soll. Ein Jahrhundert älter ist die Statue des Kirchenpatrons Aegidius, ebenfalls ein Schutzpatron des Weins und jeweils am 1. September mit frischen Trauben geschmückt. Unter der Vierung ist die gotische Skulptur des Hl. Aegidius, die um 1380 entstanden ist, und die des Heiligen Urban zu sehen. Darüber hinaus beherbergt die Mittelheimer Basilika barocke Heiligenfiguren des 17. und 18. Jahrhunderts: über dem Eingang an der Westwand sind die Heilige Margarethe und der Heilige Georg über getötetem Drachen zu sehen, an den Arkadenpfeilern im Kirchenschiff Figuren des Aloysius, Josef, Antonius von Padua und nochmals Aegidius.

Bereits vor 1000 existierte eine einschiffige, ottonische Kapelle am Standort der heutigen Basilika. Anlässlich eines Tages der offenen Denkmäler hatte einst der in Mittelheim tätige Pastoralreferent Gregor Weigand erläuterte, warum diese erste Basilika in Mittelheim vor knapp elfhundert Jahren an das damals noch unmittelbar angrenzende Rheinufer gebaut wurde. Dazu stellte Weigand den Besuchern einen Eintrag aus dem Tagebuch Johann Wolfgang von Goethes "Im Rheingau Herbsttage" vom 4. September 1814 vor. Darin beschreibt Goethe eine Überfahrt über den Rhein „in einem mit Menschen überladenen Kahne von Mittelheim nach Weinheim, bei ziemlich lebhaftem Nordostwind." Der Ausflug Goethes an diesem Tage galt dem Palast Karls des Großen in Niederingelheim. Von dieser Beschreibung Goethes ausgehend, entwickelte Gregor Weigand die historische Theorie, die den Bau der ersten Mittelheimer Basilika am Rheinufer schlüssig begründete. Zunächst sei davon auszugehen, dass die Tradition der Rheinfähre und des Rheinüberganges bei Mittelheim nach Freiweinheim nicht nur zur Zeit Goethes schon bestand, sondern schon 1000 Jahre vor dem Dichterfürsten, meinte Weigand. Zu dieser Zeit habe der fränkische Kaiser Ludwig der Fromme in der Kaiserpfalz zu Ingelheim Hof gehalten. „Da an einer königlichen Tafel der Wein das wichtigste Getränk darstellt, erwirbt dieser am 4. August 817 zwei Weinberge auf dem der Pfalz gegenüberliegenden Rheingauer Rheinufer am Elsterbach. Der heutige Ortsname Winkel, lateinisch vini cella, verweist auf den Weinkeller der kaiserlichen Pfalz. Über den Rhein wurde der Wein mit einem Floß oder einem Nachen von Mittelheim nach Freiweinheim in Richtung Kaiserpfalz transportiert, den gleichen Weg, den Goethe im Jahre 1814 beschrieb. Ein historischer Rheinübergang an dieser Stelle ist wahrscheinlich, da hier der Rhein im gesamten Rheingau zwar am breitesten, aber auch am seichtesten ist, zuweilen jedoch auch sehr gefährlich sein kann, wie Goethe ebenfalls beobachtet hat. Man kann sich durchaus vorstellen, dass man den Rhein in Niedrigwasserzeiten hier auch zu Pferde überschreiten konnte", so der Referent. Zu vermuten sei auch, dass der Rheinübergang auf beiden Seiten mit Kapellen markiert wurde, um dem Fuhrmann den Überfahrtweg zu zeigen und ihm geistliches Geleit zu geben. „Man kann annehmen, dass vor der nicht ganz ungefährlichen Überfahrt in einer der beiden Kapellen vorher ein Gebet gesprochen wurde", meinte Weigand. So sei eine erste einschiffige romanische Basilika in Mittelheim bereits für die Zeit um 950 bezeugt. Ihrer Errichtung falle in die Zeit Kaiser Ottos I. Während seiner Regierungszeit seien auf einer Synode in der Ingelheimer Kaiserpfalz kirchenpolitische Entscheidungen, die ganz Europa betrafen, erlassen worden, zu denen die gesamtfränkischen Bischhöfe und der Gesandte des Papstes anwesend waren. Weigands These wurde von seiner Freiweinheimer Kollegin, der Gemeindereferentin Gremminger, unterstützt. Sie berichtete auch, dass der alte Kirchenpatron von Freiweinheim, der Heilige Nikolaus, der Beschützer der Seefahrer und Schiffer sei. Diese Beobachtung bestärke zusätzlich die These des Rheinüberganges bei Mittelheim/Freiweinheim schon zur fränkischen Königszeit. Der Heilige Aegidius und der Heilige Nikolaus schützten die Frankenkönige bei der Rheinüberquerung. Schon die erste Basilika in Mittelheim sei dem Heiligen Aegidius, einem besonders im Frankenreich verehrten Heiligen, geweiht gewesen.

Der Heilige Aegidius wurde um das Jahr 640 als Sohn einer wohlhabenden christlichen Familie in Athen geboren. Er blieb aber nicht in Griechenland, im damaligen byzantinischen Reich, sondern ließ sich mit einem Schiff nach Südfrankreich bringen, wo er sich im Rhonedelta zunächst als Einsiedler niederließ, um ganz Gott zu dienen.

Nach 1108 lebten Augustiner-Chorfrauen in einem kleinen, von dem Mainzer Ministerialen Wulverich von Winkel, einem Angehörigen der Familie Greiffenclau, zu Ehren des heiligen Aegidius gestifteten Kloster bei der Kapelle. Die Kapelle wird zwischen 1118 und 1131 durch den heutigen dreischiffigen Bau ersetzt. Erbaut wurde die Klosterkirche von den Augustiner-Chorherren, nachdem sie vom Mainzer Erzbischof Adalbert wegen Zuchtlosigkeit von ihrem Besitz in Eberbach vertrieben worden und dort die Zisterzienser eingezogen waren. Die Chorherren gründeten in Mittelheim ein Doppelkloster zu Ehren des heiligen Aegidius, in dem sowohl Mönche als auch Nonnen lebten. Das Mönchskloster bestand aber nur wenige Jahrzehnte. Als die Nonnen 1213 ihr Kloster ins Gottesthal bei Oestrich verlegten, existierte kein Konvent der Mönche mehr. Zwar haben die Augustinerinnen noch einige Zeit die Aegidienkirche als ihre Klosterkirche benutzt, mussten aber nach 1251 im Gottesthal eine eigene errichten. Denn ein Jahr zuvor hatte eine Spaltung des Ordens stattgefunden. Die meisten der Augustinerinnen hatten sich für den Übertritt zu den Zisterzienserinnen entschieden, nur eine kleine Gruppe blieb dem alten Orden treu. Sie kehrte nach Mittelheim zurück, nachdem ihnen Erzbischof Christian Il. erlaubt hatte, die alten Klosteranlagen wieder zu benutzen. Dessen Nachfolger Gerhard I. untersagte den Augustinerinnen aber, Novizinnen aufzunehmen. So starb das Aegidienkloster allmählich aus. Ab 1263 ist die Basilika Pfarrkirche der Gemeinde von Mittelheim. Das Kloster Gottesthal hatte ab 1284 Patronatsrecht über Pfarrei und Basilika in Mittelheim. 1353 war dann die Pfarrei St. Aegidius etabliert und bekam dann auch als Mittelheimer Pfarrgemeinde einen eigenen Pfarrer.

Mit nur geringen Veränderungen hat der romanische Bau die Jahrhunderte überdauert. Dagegen ist vom Kloster Gottesthal nur noch wenig erhalten: ein alter Torbogen und das einstige Pfortenhaus. Nach der Säkularisierung waren die Klostergebäude nämlich abgebrochen, die Steine der Gebäude und der Klosterkirche für den Straßen- und Häuserbau verwendet worden. Verschwunden sind damit die Zeugen des bedeutendsten Zisterzienserinnenklosters im Rheingau. In seiner Blütezeit übertraf es in wirtschaftlicher Hinsicht die beiden anderen Frauenklöster dieses Ordens im Rheingau: Marienhausen in Aulhausen und Tiefenthal bei Martinsthal. Zahlreiche Weinberge in Oestrich und Mittelheim, eine Rheinaue und beachtlicher Besitz auch jenseits des Rheins schufen dem Orden Ansehen und Wohlstand.
Eine schwere Krise erlebte das Kloster während des Bauernaufstands von 1525, als Rebellen ins Kloster einfielen und mit Spießen die Türen durchbohrten. 1619 gab es einen Skandal um die Äbtissin Elisabeth Brech. Sie ließ ihr Kind umbringen, das sie von einem aus Winkel stammenden Ehemann empfangen hatte. Der war Klosterschaffner in Gottesthal gewesen. 1448 wurden das Kloster Gottesthal und das Stift St. Viktor vor Mainz verpflichtet, die Basilika in Mittelheim zu erhalten. In diesem Zug erhielt die Kirche 1511 eine kunstvoll geschnitzte Holzkanzel aus der Werkstatt von Erhart Falckener, der in Abensberg geboren wurde und am Mittelrhein wirkte. Die kunsthistorisch bedeutsame bayerische Renaissancekanzel mit Schnitzereien und Inschriften ist bis heute sehr gut erhalten. In der Taufkapelle der Basilika gibt es außerdem den spätgotischen Taufstein von 1490 zu sehen, der von der Patrizierfamilie Fürstenberg gestiftet wurde und deren Familienwappen trägt.
In der Zeit von 1699 bis 1720 sorgen das Sankt Viktor-Stift und die Familie Greiffenclau von Schloss Vollrads für einen Hochaltar und Ausstattung im barocken Stil. Dazu gehören ein barockes Chorgestühl von 1684 und ein Beichtstuhl, der um 1700 entstand. Über dem Hochaltar, einem romanischen Block aus der Erbauungszeit, sieht man auch eine barocke Kreuzigungsgruppe von 1720. Durch eine Öffnung auf der Rückseite gelangt man in eine Confessio mit Altarmensa und Reliquiengrab. Die Basilika beherbergt auch Grabdenkmäler aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert für Adelspersönlichkeiten und Schöffen aus dem Rheingau. Der früheste dieser Epitaphe ist Margaretha von Frankenstein gewidmet. Aufwändig mit Familienwappen verziert und Inschrift versehen ist das auch das Grabmal für die am 26. Mai 1658 verstorbene Rosina Greiffenclau von Vollrads.

Die Nonnen in Kloster Gottesthal und Mittelheim mussten schließlich 1644 vor den Schweden fliehen. Doch der Umsicht der späteren Äbtissinnen und dem Fleiß der Klosterfrauen ist es zu verdanken, dass im 18. Jahrhundert noch einmal ein beachtlicher Aufschwung folgte. Die Säkularisierung 1810 bedeutete allerdings das Ende des Klosters Gottesthal: Die Ländereien wurden verkauft, die Gebäude abgerissen. Die Mittelheimer Basilika entging zum Glück diesem Schicksal und im Zuge von Renovierungen in den Jahren 1903, 1938 und 1952 wurde die Basilika sogar wieder in den romanischen Urzustand zurückversetzt. 1938 wurden sogar die aus dem 10. Jahrhundert stammenden Fundamente des ottonischen Vorgängerbaus der Basilika freigelegt.

Eine architektonische Besonderheit der Basilika ist die heute nur noch selten erhaltene Bauform einer Dreifach-Apsis: Sowohl das Hauptschiff als auch die beiden Seitenschiffe schließen im Osten mit je einer halbkreisförmigen Altarnische ab.
Heute ist die Mittelheimer Basilika eine der besonderen Sehenswürdigkeiten im Rheingau und für viele Rheingauer Gläubige gerade durch ihre mittelalterliche Schlichtheit ein besonderes Gotteshaus. So sind die Festgottesdienste in der Christnacht oder zur Johannesweinweihe immer etwas ganz Besonderes und auch viele Konzerte beleben diese Kirche mit ihrer wechselvollen, jahrhundertealten Geschichte bis heute.

Ein Bericht von Sabine Fladung vom 13.09.2020.

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