Das Lied der schwangeren Frau, die an der Grenze starb

27.10.2017

"Come Together" war ein emotionsgeladenes Konzert und Fest für Flüchtlinge und Deutsche/Riesiges Interesse und viele neue Freundschaften

Oestrich-Winkel. (sf) In Zeiten, in denen Rechtpopulisten mit Fremdenhass immer mehr an Macht zulegen, hat es eine Handvoll engagierter Menschen aus dem Rheingau und Flüchtlinge aus kriegsgebeutelten Regionen geschafft, mit einem Konzert und Fest eindrucksvoll zu dokumentieren, wie friedliches Miteinander, Integration und Verständnis füreinander funktioniert: rund 300 Gäste aus mindestens einem Dutzend Nationen und aus vier Generationen feierten beim ersten "Come together" ein wundervolles musikalisches Fest.

Gerhard Gänsler, der selbst auch mit Herzblut Musiker ist, hatte die Idee zu dem außergewöhnlichen Konzert mit Festcharakter, bei dem neben der Musik vor allem auch das Miteinander und Kennenlernen im Mittelpunkt stehen sollte. Er habe Kontakt zum Manager von Aeham Ahmad und würde mit diesem und seiner eigenen Band gern ein Konzert zum interkulturellen Austausch organisieren. Bei Stadtrat Werner Fladung traf er dabei auf offene Ohren und gemeinsam mit Meike Apitz-Spreitzer, die sich ebenfalls sehr engagiert beim Café International einbringt, wurde in den letzten Wochen emsig ein großartiges Programm an musikalischen Highlights vorbereitet. Auch aus den Reihen der Flüchtlinge sei sofort das Signal gekommen, sich hier zu beteiligen und mitzuhelfen. So wurden original arabische Speisen von den Frauen zubereitet und ganz unkompliziert bis zur letzten Minute von jungen Flüchtlingen Stühle für die vielen Besucher geschleppt, die sich bis in den Hof der Brentanoscheune drängten.

"Mit so vielen Gästen hatten wir wirklich nicht gerechnet", freute sich Werner Fladung. Selbst Bürgermeister aus den Nachbargemeinden waren zu dem Konzert gekommen, die von ihrem Kollegen Michael Heil ebenso herzlich begrüßt wurden, wie alle Gäste des Nachmittags. "Come together - Kommt zusammen", das ist im doppelten Sinne ein schöner Name für die heutige Veranstaltung. Es bedeutet zum einen "Kommt zusammen" zum Feiern, zum Reden, zum Kennenlernen, zum anderen ist "Come together" ein Titel der Beatles aus dem Jahre 1969 und Musikalisches wird heut in vielfältiger Art geboten", so der Oestrich-Winkeler Rathauschef. Mit dem Fest dokumentiere man aber auch, wie erfolgreich Flüchtlingsarbeit in Oestrich-Winkel ist, wie Integration gefördert wird und gelingen kann: "Als im Oktober 2014 die ersten Flüchtlinge kamen, wussten wir alle nicht, welche Herausforderungen wir noch zu bewältigen haben. Bis Februar 2016 kamen über 150 geflüchtete Menschen nach Oestrich-Winkel und schnell war klar, dass Unterbringung, dass Verpflegung alleine nicht reicht. Und wir wollten mehr: von Beginn an gab es viele ehrenamtliche Helfer, doch zunächst machten alle alles. Bis Strukturen geschaffen und eine Steuerungsgruppe eingerichtet wurde. Die Aufgaben wurden definiert und verteilt und auch die Verwaltung neu ausgerichtet und die Stelle eines Integrationsbeauftragten geschaffen", so Heil. Aktuell würden sich über 60 Ehrenamtliche engagieren, die gemeinsam mit den Mitarbeitern der Stadt Oestrich-Winkel viel mehr als die "Pflicht" erfüllen wurden: "Begleitung und Orientierung, Hilfe bei der Aufnahme von Beschäftigung, seien es Praktika, Ausbildungen oder Arbeitsverhältnisse, Sprachkurse, das Cafe International als Begegnungsstätte, all das, und noch vieles mehr bieten wir an". All das führe zu einer erfolgreichen Integration. "Wir haben uns dazu entschlossen, mehr anzubieten als ein Dach über dem Kopf und ein warmes Essen. Wir wollen, dass die, die bei uns bleiben, Teil unserer Gesellschaft werden, dafür engagieren wir uns", erklärte der Bürgermeister. Er dankte allen Flüchtlingshelfern: "Sie leisten unbezahlbare Arbeit und ich hoffe, Sie bleiben uns treu". Ein besonderer Dank des Bürgermeisters ging an den Ideengeber des Nachmittags, Gerhard Gänsler, den ersten Stadtrat Fladung, den Flüchtlingsbeauftragten Bernd Herrn Nungesser, Stefanie Nikolai-Jagiela vom Familienbüro und Robert Sengenberger vom Wohnungsamt für die Unterstützung. Auch dem hessischen Wissenschaftsministerium und der Rheingauer Volksbank für die finanzielle Unterstützung des Konzertes dankte er.

Das eigentliche Programm eröffnete schließlich der bekannte ZDF-Sportreporter Thomas Wark, der mit interessanten Hintergrundinformationen und Talkrunden mit den musikalischen Gästen, den Veranstaltern und Menschen, die von ihrem Leben im Krieg und auf ihrer Flucht berichteten, den Nachmittag gestaltete. Wark, der "stolz ist, in einer Region zu leben, wo Integration so funktioniert", habe sich gerne bei dieser guten Sache eingebracht.

Besonders eindrucksvoll und emotionsgeladen war dann auch gleich die Begegnung mit dem ersten Künstler des Nachmittages: Aeham Ahmad, der mit seinen spontanen Klavierkonzerten mitten im Kriegsgebiet von Damaskus weltweit berühmt geworden ist. Seine ungewöhnliche Geschichte sorgt ganz aktuell in dem Buch "Und die Vögel werden singen" auf der Buchmesse in Frankfurt für großes Aufsehen. Im Gespräch mit Thomas Wark erzählte Aeham Ahmad, der 1988 in Damaskus geboren wurde und in Yarmouk, einem Vorort von Damaskus aufwuchs, dass er bereits mit vier Jahren von seinem Vater musikalisch gefördert wurde. "Mein Vater war blind, aber ein begnadeter Geigenspieler. Er war Instrumentenbauer und hatte mein Talent schon früh erkannt. Wir hatten ein florierendes Geschäft für Instrumente, ich hatte eine behütete Kindheit in einem noch friedlichen Syrien und zog mit meinen Freunden Mahmoud und Meras durch die Straßen von Damaskus", erzählte er. Mit sieben erhielt Aeham Klavierunterricht am Arabischen Institut in Damaskus. Später studierte er Musikpädagogik in Homs und arbeitete als Musiklehrer. Er erzählte auch von den Anfängen der Rebellion, dem Beginn des schrecklichen Krieges und von seiner lebensgefährlichen Flucht 2015 nach Deutschland, das ihm zur neuen Heimat wurde. "Dass ich geflohen bin und meine Familie zurück gelassen habe, dafür schäme ich mich bis heute. Immer wieder habe ich mir die allergrößten Vorwürfe gemacht und nur durch die Musik den Kopf frei bekommen. Deshalb habe ich hier in Deutschland all meine Kraft in die Musik gesetzt", erzählte der junge Mann. Der ausgebildete Musiker fand in seiner Leidenschaft einen Weg, den Schrecken des Krieges in seiner Heimat für kurze Zeit zu entkommen. Dieses Gefühl wollte er auch anderen vermitteln und genau dabei entstanden die besonderen Bilder, die ihn international bekannt machten. Und nicht nur seine geflohenen Landsleute rührte er mit seiner gefühlvollen Musik zu Tränen.

Vor einigen Monaten dann konnte er auch seine Frau und seine Kinder wieder in die Arme schließen, der kleine Sohn saß während des Konzertes die ganze Zeit auf der Treppe der Bühne und lauschte dem Vater. Heute lebt er mit seiner Familie in Wiesbaden und gibt Konzerte in ganz Europa. Im Dezember 2015 wurde Ahmad ausgezeichnet mit dem Internationalen Beethovenpreis für Menschenrechte. In seinem brandneuen Buch "Und die Vögel werden singen" erzählt er seine Geschichte erstmals selbst und liefert ein zutiefst beeindruckendes Zeugnis von Widerstand und Zuversicht. Das erste Kapitel des Buches, das beim "Come together" vorgelesen wurde, rührte viele im Publikum zu Tränen. Vor den Augen hatte man den jungen Mann, der inmitten der Bombenkrater Klavier für seine Nachbarn, vor allem für die Kinder spielt, "um sie von den Schrecken des Krieges abzulenken". Immer wieder war es seine Musik, die andere Menschen getröstet, ermutigt und ihm selbst buchstäblich das Leben gerettet hat. Für die, die er nicht retten konnte, hat er musikalische Denkmäler gesetzt: Aeham Ahmad präsentierte in der Brentanoscheune ein Lied, das er für die Frau seines Freundes, des Honigverkäufers Ziad, geschrieben hat. Sie war hochschwanger und hatte einen Passierschein, um das Kind in Damaskus im Krankenhaus zur Welt zu bringen. Doch die Soldaten ließen sie nicht durch, sie starb an der Grenze. Nur das Kind konnte gerettet werden. Ganz klar, dass bei dieser tiefbewegenden Musik kaum ein Auge trocken blieb. Auch ein Stück musikalische Heimat gab Aeham Ahmad den Menschen im Saal, die das gleiche Schicksal haben wie er: gemeinsam sangen sie syrische Heimatlieder für das deutsche Publikum. Und dass er auch fröhlich sein kann und "deutsch" kann, bewies der Pianist mit kraftvollen, schnellen Interpretationen der berühmten Werke von Beethoven oder Mozart. Der emotionale Höhepunkt seines Auftritts war erreicht, als er den Saal aufforderte, Beethovens "Ode an die Freude" gemeinsam zu singen. Mit dem "Alle Menschen werden Brüder" wurde sein Ziel deutlich.

Und nicht nur der mittlerweile weithin bekannte Pianist begeisterte die vielen Besucher des Konzertes: rockige Töne mit weltbekannten Liedern, die alle Völker verbinden, gab es von Bassist Gerhard Gänsler und seiner Band "Take it Easy" auf die Ohren. Später dann war wieder ein geflüchteter junger Musiker an der Reihe: Mohammed Moradi begeisterte die Besucher mit wunderbaren Liebesliedern auf Persisch und Türkisch. Danach war "Arties Blues Band mit Daniel Schmicking, Gerhard Gänsler und dem Gitarristen Gerd Vogel an der Reihe und die Kulturen übergreifende Kraft der verschiedenen Musikacts zeigte, wie nah sich die Menschen doch sind: egal welche Nation, egal wie jung oder alt - Musik verbindet sie alle.

Ein Bericht von Sabine Fladung vom 27.10.2017.

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