Monsterscheren fressen 120 Meter Betontunnel

03.08.2016

Koepp-Tunnel in Oestrich ist seit vergangenem Wochenende Geschichte/Noch drei Monate Bauarbeiten auf der B42

Oestrich. (sf) Wie riesige Monster mit großen Scheren fraßen sich die Spezialbagger in die Betonwände und das Dach des Koepp-Tunnels auf der B 42. Und als ob sie einen Riesenhunger hätten, verschwand das 1958 bis 1960 gebaute, 120 Meter lange Betonwerk auf der B42 in wenigen Stunden Stück für Stück. Eigentlich hatte man schon 2014 den Abriss des Tunnels geplant, seinen Zweck, nämlich Verkehrsteilnehmer auf der Bundesstraße vor herabfallenden Gütern zu schützen, die ein Kran zu den Schiffen auf dem Rhein transportierte, erfüllte der Tunnel schon lange nicht mehr. Der Kran ist seit 1997 nicht mehr in Betrieb und wurde schon vor sechs Jahren zerlegt. Jetzt war es aber nach langen Planungsphasen und mehreren Terminverschiebungen endlich soweit: seit vergangenem Wochenende ist der Koepp-Tunnel auf der B 42 bei Oestrich Geschichte.

Von beiden Seiten des Tunnels hieben sich die Großbagger mit speziellen Abbruchscheren am Wochenende durch Beton und Stahl. Schon am Freitag war vom einst 120 Meter langen Koepp-Tunnel innerhalb von nur acht Stunden rund ein Viertel abgerissen, am Samstagabend lagen dann nur noch verbogene Stahlträger und Betonklumpen auf der für den Verkehr voll gesperrten Straße. Damit die Fahrbahn, die seit Montag wieder einseitig für den Verkehr Richtung Wiesbaden freigegeben wurde, nicht von herabfallenden Betonklumpen und den Ketten der Großbagger beschädigt wurde, hatte man vor dem Beginn der Abrissarbeiten eine dicke Sandschicht auf die Fahrbahn aufgeschüttet.
Am Freitagmorgen bereits um 5 Uhr hatten die Abrissarbeiten begonnen, die Abbruchscheren zerbröselten die Einhausung, die früher die Straße vor herabfallenden Gütern schützte. Insgesamt 660 Tonnen Stahl und Beton wurden noch vor Ort in den Abrisspausen nachts getrennt und mit Lastwagen von der Baustelle abtransportiert. Die Abfalltrennung lohnt sich: rund 140 Euro gibt es für eine Tonne Stahl. Und um die Straße so schnell wie möglich wieder einseitig für den Verkehr freizugeben, arbeiteten die Bauarbeiter an diesem Wochenende rund um die Uhr. Bis Sonntagabend lagen dann auch wirklich nur noch die Brocken des einstigen Tunnels auf der Fahrbahn, den Bauarbeitern war die Erschöpfung anzumerken. Doch noch galt es, den restlichen Schutt wegzufahren, das Sandbett wieder abzutragen und die Fahrbahn vor der Freigabe nach Schäden zu untersuchen, die bei solchen Abrissarbeiten doch immer möglich sind. Und weil die Gefahr auch so hoch war, dass die Betonklötze oder Stahlträger beim Abriss weit fliegen, hatte man nicht nur die B 42, sondern auch den Leinpfad während der Abrissarbeiten abgesperrt. Zuschauer waren ebenfalls nicht zugelassen, die Baustelle wurde weiträumig mit Bauzäunen gesichert.

Natürlich war die Vollsperrung für den Abriss des Koepp-Tunnels am vergangenen Wochenende auch mit viel Ärger für alle Verkehrsteilnehmer und die Anwohner in Oestrich verbunden. Der gesamte Verkehr mit Wochenend-Touristen, Festivalbesuchern, am Freitag auch der Lieferverkehr mit Lastwagen, Busse und vor allem auch Fahrradfahrer, die vom gesperrten Leinpfad ebenfalls in den Ort mussten, lief durch Oestrichs Straßen. Schon seit Mitte letzter Woche war wegen der halbseitigen Sperrung der B 42 zur Einrichtung der Baustelle am Koepp-Tunnel die Rheingaustraße ab der Kreuzung Hallgartener Straße/Europaallee zur Einbahnstraße für die Fahrzeuge aus Rüdesheim kommend eingerichtet worden. Am Abrisswochenende selbst wurde die Einbahnstraße umgedreht und die Fahrzeuge aus Wiesbaden nach Rüdesheim befuhren die Rheingaustraße, während die Fahrzeuge aus der anderen Richtung von der B42 über die Europaallee auf die Rheingaustraße geleitet wurden. Direkt an der Schnittstelle waren fast rund um die Uhr Ordnungskräfte der Polizei zugegen, die Falschfahrer zurechtwiesen.
Erschwerend hinzu kam das am Wochenende stets hohe Aufkommen von ortsunkundigen Fahrradfahrern, die vielfach von der Umleitung und dem starken Kraftfahrzeugverkehr überfordert waren. Zum Glück kam es diesmal nicht zu schweren Unfällen, viele Verkehrsteilnehmer zeigten doch die notwendige Geduld und Rücksichtnahme. Vor allem die Rheingauer waren sehr einsichtig, wer konnte, mied am Wochenende das Nadelöhr Oestrich.

Doch leider ist es mit nur einem Abriss-Wochenende nicht getan, denn der Abbruch des Tunnels zieht eine Reihe von nötigen Baumaßnahmen nach sich. Die Baustelle am ehemaligen Tunnel wird noch bis Oktober mit einseitiger Sperrung, Einbahnregelung und Durchfahrt durch Oestrich für Verkehrschaos im Berufsverkehr und Ausflugsverkehr am Wochenende sorgen. Zu den Bauarbeiten nach dem Abriss des Tunnels gehört vor allem die Abänderung der Fahrbahn der B42. Nicht mehr geschützt durch das Tunneldach, muss die ebene Fahrbahn mittig erhöht werden, damit das Wasser bei Regen zu den Rändern hin ablaufen kann. Zusätzlich sollen auch Abläufe eingebaut werden. Die zeitaufwendigsten Arbeiten sind außerdem die Sanierungsarbeiten an der Fahrbahn, deren Decke bis auf den Beton abgetragen und dann wieder in mehreren Schichten aufgebaut wird. Erfolgen soll diese aufwendige Sanierungsarbeit in zwei Etappen, damit jeweils eine Fahrspur für den Verkehr bleibt. Verschärft wird die Situation derzeit noch durch die Baustelle in Mittelheim, die zur Sanierung des Tunnels zur Fähre eingerichtet ist. Auch hier muss der Verkehr einspurig geführt werden.
Ebenfalls saniert werden muss die 170 Meter lange Brücke, auf der der Tunnel jahrzehntelang stand. An den Brückenkappen bröckelt hier seit Jahren für die Autofahrer sichtbar die Abdichtung. Die muss komplett neu beschichtet werden, damit die Feuchtigkeit nicht in den Beton eindringen kann. Und auch das alte Geländer wird auf der vollen Länge ausgetauscht. Außerdem müssen die Übergangskonstruktionen, die zwischen den Brückenteilen die Verformungen und Bewegungen des Brückenüberbaus durch Temperaturschwankungen und die Verkehrsbelastung ausgleichen, erneuert und kleine Risse verpresst werden. Um die Straßenabschnitte vor und hinter dem Bauwerk an das neue Profil anpassen zu können, wird die Fahrbahn vor und hinter der Brücke auf jeweils 300 Meter ebenfalls erneuert. Umfassende Arbeiten also, die eben Zeit kosten werden.
Nicht nur jetzt schon genervte Autofahrer hatten in den Tagen vor dem Abriss betont, der Tunnel hätte auch stehen bleiben können, er störe niemanden, man habe sich an dieses Bild gewöhnt und kenne die B42 gar nicht ohne den Tunnel. Auch von einem Industriedenkmal wurde schon gesprochen. Tatsächlich verursachte der Tunnel aber einen hohen Unterhaltungsaufwand, der mit zunehmendem Verschleiß in den letzten Jahren stetig stieg. Eine Sanierung wäre letztendlich teurer gewesen als der Abriss.

Historie:

1861 hatte der Chemiker und Unternehmensgründer Rudolph Koepp zunächst noch auf dem Fabrikgebäude mit Maschinenhaus in Oestrich am Ende der Mühlstraße mit der Herstellung von Erdfarben und Zement begonnen, schon ein Jahr später begann unter dem Namen Rudolph Koepp & Co. Fabrikation von Chemikalien die Produktion von Oxalsäure. Das Geschäft boomte und so expandierte man bereits 1872: ein weiterer Firmensitz wurde am heutigen Standort am Rhein errichtet, das alte Firmengebäude 1883 abgerissen und an auf dem Gelände ein Pflegeheim für Alte und Kranke unter der Leitung der Dernbacher Schwestern errichtete. Koepp entwickelte sich zum bedeutendsten Oxalsäure-Hersteller Europas. 1907 wurde Oxalsäure zum ersten Mal großtechnisch nach einem neuen Koepp-Verfahren hergestellt, 1908 folgte die Ausweitung der Produktion auf Ameisensäure. Schon damals war am Rheinufer für die Verladung der Produktion auf die Rheinschifffahrt ein großer Portalkran des Kranherstellers Zurstrassen aus Ettlingen errichtet worden.
Während des Ersten Weltkrieges gingen Produktion und Absatz von Oxal- und Ameisensäure stark zurück, da sie keine kriegswichtigen Produkte waren. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Produktion aufrechterhalten, neue Produkte wie die aus Holz gewonnene Erka-Faser oder ein auf Oxalatbasis hergestelltes Wasserenthärtungsmittel mit Waschwirkung führten während des Krieges zu beachtlichen Erfolgen. Kurz vor Kriegsende wurde das Oestricher Werk beschädigt, dann besetzten amerikanische Truppen die Firmengebäude in Oestrich, doch 1946 konnte dort eine zunächst bescheidene Produktion wieder aufgenommen werden.
Ab 1954 begann dann die Herstellung von Polyurethanschaumstoffen. Für den Neubau der Bundesstraße 42, die direkt am Rhein entlang das Koepp-Gelände durchschneiden sollte, wurde 1959 der Koepp-Tunnel in Oestrich unter dem Kran gebaut, der den Straßenverkehr vor eventuell herunterfallender Ladung schützen sollte. Tunnel und Kran waren für Jahrzehnte prägend für das Oestricher Ortsbild und verhinderten auf 120 Metern entlang der Bundesstraße die sonst durchgehend freie Sicht auf den Rhein.
In den 1980er Jahren wurde ein großer Teil des Betriebsgeländes in einen Gewerbepark umgewandelt . Die Verladeanlage am Rhein sowie der Kran gingen 1997 außer Betrieb. Der Kran, der sich zum Schluss im Besitz des Betonherstellers Readymix befand, wurde im Juli 2009 demontiert. Damit verlor auch der Tunnel seinen Zweck und die Prüfungen begannen, welcher Aufwand für seine Beseitigung erforderlich wäre. Man erkannte, dass es ist nicht damit getan war, die Einhausung zu entfernen, das würde statische Probleme mit sich bringen. Denn das Bauwerk erhebt sich an dieser Stelle über einer 170 Meter langen Brücke. Auch die Fahrbahn muss deshalb komplett erneuert und verändert werden.
2012 waren die Glasbausteine an den Seiten, die teilweise bereits mutwillig zerstört worden waren, entfernt worden. Schon 2013 sollte auch der Tunnel verschwinden, doch weder dieser noch der nächste Termin im Oktober 2014 konnte gehalten werden. Die Arbeiten, so hatte Hessen Mobil seinerzeit erklärt, seien doch aufwändiger als gedacht, die Herbstferien dazu nicht ausreichend. Zunächst war dann ein neuer Termin für das Frühjahr 2016 genannt worden. Seit vergangenem Wochenende ist der Oestricher Koepp-Tunnel jedoch tatsächlich Geschichte.

Ein Bericht von Sabine Fladung vom 03.08.2016.

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